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Licht und Schall und Wahn

Aktualisiert: 30. Sept. 2022

Der Schriftsteller Poljak Wlassowetz und die Bewegung 3. Juli waren vor einiger Zeit kreuz und quer in Berlin unterwegs. Ihre Ausrüstung: Ein Projektor mit 70.000 Lumen. Ein wendiger Transporter. 20 Literatur- und Kunstmotive und ein paar neongelbe Warnjacken. Ein kurzer Rückblick der Lichtguerillaaktion.


19:32 Uhr. Bei Einbruch der Dämmerung stellen wir unseren bis unters Dach mit Technik vollgepackten Transporter gegenüber dem ALLESANDERSPLATZ ab. Hinter uns sichert der Fernsehturm einen freien Himmel. Wir schlüpfen in unsere Warnjacken, die uns vor unbequemen Fragen schützen sollen, stecken die Kabel an, richten den Projektor auf die entkernte Südfassade des Haus der Statistik, mit seinen noch nicht leuchtenden Lettern auf dem Flachdach, und fahren die Maschine hoch. Es wird laut, es wird heiß, es wird hell.



20.44 Uhr. Mit zunehmender Dunkelheit entfaltet der Projektor seine volle Kraft. Wir projizieren mit einer Leistung von 70.000 Lumen (gibt an, welche Lichtmenge eine Lichtquelle pro Zeiteinheit insgesamt abgibt) unsere Motive an die Wand, darunter das MANIFEST FÜR EIN GUTES LEBEN von Poljak Wlassowetz und seine 63 Anstiftungen für ein besseres Miteinander, für eine Welt, in der wir einander nicht länger als Bedrohung, sondern endlich als Versprechen begreifen müssen. Der meterhohe Schriftzug STOP WARS erinnert uns daran, dass die Bedrohung gegenwärtig ist. Unsere Gedanken driften 1351 Kilometer gen Osten, wo Bomben auf Zivilisten fallen, wo sich imperialer Größenwahn in roher Gewalt ausdrückt.



21:51 Uhr. Wir tun, was wir Menschen zu perfektionieren gelernt haben, wir verdrängen die Gegenwart und ihre Miseren. Wir lenken uns ab, um die Welt zu ertragen. Also fahren wir durch Mitte, halten hier und dort an, um irgendwie gegen die Dunkelheit anzukommen. Anhalter Bahnhof. Hackescher Markt. Unsere Visionen reflektieren auf Ruinen, durchdringen Glasfassaden und versinken in ihnen. Wir kommen mit Passanten ins Gespräch, stärken uns in zwei oder drei Eckkneipen (unsere Fahrerin bleibt natürlich nüchtern, schließlich muss sie einen knapp 8 Meter langen Transporter durch das sich in Wochenendstimmung befindende Berlin manövrieren) und während wir gemeinsam die weitere Route festlegen, über unsere am Tresen liegende digitale Stadtkarte gebeugt, blitzt und donnert es, als regneten Raketen auf die Stadt herab.



22:44 Uhr. Das Unwetter ist über uns hinweggezogen. Der leuchtende Fernsehturm muss es vertrieben haben. Wir konzentrieren uns auf unsere heutige Mission und parken nahezu ordnungsgemäß auf dem verwahrlosten Berlin Walk of Fame (auch bekannst als Boulevard der Stars). Die großflächigen Fassaden am Potsdamer Platz bieten sich für unser Vorhaben gut an. Während der Projektor hochfährt, schlendern wir den Boulevard entlang, springen von Stern zu Stern. Alexander Kluge. Werner Herzog. Jutta Hoffmann. Asta Nielsen. Wim Wenders. Die, die wir nicht mögen, lassen wir aus. Zwei Streifenwagen fahren im Schritttempo an uns vorbei. Wir grüßen höflich und nicken ihnen zu. Sie mustern uns und grüßen freundlich zurück. Unsere Warnjacken bewahren uns davor, unsere nicht vorhandene Genehmigung suchen zu müssen.


Neben den Manifestthesen werfen wir u. a. das Cover des Romans LITIOTPIA und die vom Künstler Cris Koch geschaffene Serie I WANT TO EXTINCT an die Wand. Angesichts unserer sterilen Umgebung, diesem zubetonierten und herzlosen Platz mit seinen angrenzenden Luxuswohnungen, den verwaisten Büros und der nahe gelegenen Mall, bei deren Bau zahlreiche Arbeiter um ihren Lohn geprellt wurden, wünschen wir uns kurzzeitig genau das: WE WANT TO EXTINCT.



23:29 Uhr. Wir steuern unsere nächsten Ziele an. Das raumschiffartige ICC Berlin und seine silbergraue Aluminium-Fassade (High-Tech-Architektur) im Westend. Das monumentale Ullsteinhaus (Backsteinexpressionismus) am Teltow Kanal. Verwaiste oder zugesprayte Fassaden in Neukölln und Kreuzberg. DDR-Architektur in Friedrichshain. Wir haben noch genug Benzin im Tank, um uns weiter gen Osten aufzumachen.


Eine blaue Sirenenwelle rauscht an uns vorbei. Durch das schrille Warnsignal holt uns die Realität ein. Nur 1351Kilometer trennen uns vor dem Unvorstellbaren. Auch 70.000 Lumen reichen nicht aus, um unsere Vision von einem guten Leben mit euch teilen zu können. Wir schalten den Projektor ab, fahren ins Dunkel hinein und schweigen über das, was wir zu tun haben.


03:55 Uhr. Warschau.


15:21 Uhr. Kiew.


02:39 Uhr. Moskau.




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